Das Unabgegoltene in der Auseinandersetzung um Adorno

Das Verhältnis zur Kritischen Theorie, und das heißt letzten Endes dann immer zu Adorno, ist kompliziert. Damit meine ich das Verhältnis, das wir heute (2019) aus der Sicht einer praktischen emanzipatorischen Bewegung und deren Theorie, und beides vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten, zur Kritischen Theorie und im Besonderen zu Adorno einnehmen.

Einerseits wird Adorno von vielen hochgehalten und gilt als theoretischer Garant eines radikalen Antikapitalismus, der nicht in die Fallstricke autoritärer Staatlichkeit und des Stalinismus gerät. Es geht dann vor allem um die Negativität Adornos, um das kompromisslos Nichteinverständnis mit dem Bestehenden. Und in dieser Hinsicht, aufgrund beider Argumente, ist es auf jeden Fall falsch, Adorno einfach über Bord zu werfen, wobei es dafür gewissermaßen auch gute Gründe gibt, dazu unten. Die beiden Argumente sind: Die Gegnerschaft zum Bestehenden als Ganzen (die „Negativität“) und die Gegnerschaft zu den autoritären Tendenzen der Arbeiterbewegung. Beides ist nicht nur eine politische Positionierung, sondern drückt sich auch in vielen Facetten der Theorie Adornos aus, z. B. seinen Anregungen zu einer nicht-ontologischen Dialektik, die wesentlich sind (wesentlich sowohl in ihrer historischen Wirkung als auch in ihrem Gehalt) für die Kritik der ontologischen und letztlich paternalistischen Dialektik des „Marxismus an der Macht“.

Und so ist es so, dass für viele Marx und Adorno quasi die beiden wesentlichen Denker sind, also „Marx und Adorno“ zusammengedacht als diejenigen, die das Richtige sagen und die die adäquaten Grundlagen haben, auf denen man aufbauen muss. Allerdings lässt Adorno kein Geheimnis darin, dass er mit Marx in wesentlichen Punkten bricht und er sich selbst auch dezidiert dem Linkshegelianismus zuordnet – also denjenigen linksradikalen Hegel-Schülern, von denen sich Marx in den Jahren 1843-1845 gerade in seinem Übergang zu kommunistischen Positionen gelöst hatte. Es ist darum falsch, Adorno als „Marxisten“ (im Sinne eines substantiellen Anschlusses an die Marxsche Theorie) einzuordnen; seine Theorie widerspricht Marx gerade in zentralen Punkten: beispielsweise hat er auch keinen Begriff des Kapitals, sondern bloß einen des Äquivalententauschs. Das Verhältnis ist aber darum kompliziert, weil Adorno auch für die Marx-Rezeption in vielen Punkten die entscheidende Weichenstellung gegen den orthodoxen leninistischen Marxismus darstellt und man da ohne Adorno auch nicht weiterkommt.

Gerade in der Frage der Negativität von Dialektik und in der Mikrologie der konkreten und sensiblen Kritik am Phänomen ist Adorno von wahnsinniger Relevanz. Für die Dialektik heißt das: dass es nicht um positive Bewegungen mit synthetischen Aufhebungen und so geht, oder dass es ein positives, wesenhaftes Prinzip gibt, das hinter der Dialektik steht (Geist, Begriff), sondern dass es die Abstraktion in der konkret entfremdeten Verfasstheit der konkreten Verhältnisse ist, die die Dialektik vorantreibt – die Negativität isolierter Lebensverhältnisse. Dass es eine Abstraktion ist, die die Dinge beherrscht, die es gar nicht gibt, die es nicht geben kann, und die trotzdem herrscht. Für die Mikrologie heißt das: Dass die konkreten Lebensverhältnisse und ihre Probleme nicht auf einfache Kategorien (Ungerechtigkeit, Repression) herunterzubrechen sind, sondern dass sie zu kritisieren sind nur in ihrer genauen und subjektiv empathischen Beschreibung, wobei es viele Momente gibt, die trotz ihrer „Positivität“ oder „Freiheit“ repressiv wirken, ohne dass das so direkt auf den Punkt gesagt werden kann.

In Adornos Verhältnis zu Marx bzw. weiter gefasst zur Praxis gibt es dann so etwas wie ein politisches Kernargument Adornos, das ihn zu einer reinen Theorie führt und die radikale Negativität zu einer bloß kontemplativen, d. h. nicht praktischen Haltung führt und damit letzten Endes die Negativität entleert und unsinnig macht. Dieses Kernargument wird z. B. auf der ersten Seite von Adornos Hauptwerk „Negative Dialektik“ gebracht. Dieses Kernargument besteht darin, dass aufgrund des Scheiterns der Revolution (1917 und folgende), aufgrund des weltweiten Absterbens der Klassenkämpfe und aufgrund der Integration der Arbeiterklasse eine praktische Alternative zum Bestehenden außer Sichtweite gerückt ist. Aufgrund dieses Fehlens der praktischen Alternative hat die Theorie (und damit Adorno als Theoretiker) ihre Aufgabe in Bezug auf die revolutionäre Praxis verloren. Sie muss sich darum in eine reine Theorie zurückziehen und die Negativität bloß abstrakt/kontemplativ aufrecht erhalten in dem Wissen um ihre Aporie, dass diese reine Theorie irgendwie sinnlos ist.

Dieses politische Kernargument ist nun insofern keine bloß Eigentümlichkeit Adornos, als es für weite Teile der antikapitalistischen Linken, insbesondere der Intellektuellen, in den Jahren nach dem Abflauen der 68er Bewegung grundlegend wurde. Es folgte der Rückzug in einen Gesinnungskommunismus ohne praktische Relevanz, und bis heute besteht die Ausbildung vieler antikapitalistischer bzw. linksradikaler Intellektueller in solch einer reinen Theorie, die keine wirklich substantielle Praxis sehen und sich darum in die Theorie zurückziehen.

Diese Absage Adornos an die Praxis ist darum bis heute gewissermaßen unabgegolten. Eine adäquate Diskussion dieses Kernarguments Adornos ist bis heute, im Sinne einer die gesamte Linke umfassenden Debatte, nicht gelungen. Der Schluss ist nämlich logisch falsch: Aus dem Absterben der Klassenkämpfe folgt nicht, dass die radikale antikapitalistische Theorie ihren praktischen Sinn verliert, sondern dass sie sich organisatorisch und strategisch auf die geänderten Bedingungen einstellen muss und ihre Aufgabe in einer Periode, in der die praktische Alternative fehlt, neu justieren muss. Das logische falsche Argument Adornos beeinflusst aber große Teile der heutigen Linken, insbesondere der Intellektuellen, und ist darum unabgegolten.

Die Unabgegoltenheit hat eine zweite Seite: Dass nämlich viele an sich antikapitalistische Linke aufgrund des Fehlens einer praktischen Alternative zu einem realpolitischen Reformismus übergehen. Um praktisch etwas zu verändern, engagiert man sich für Kämpfe innerhalb der bestehenden Institutionen, die keinen Bezug mehr zum Antikapitalismus haben, und in denen es nur mehr um linke, progressive Verbesserungen bei Akzeptanz der zugrundeliegenden repressiven Strukturen geht.

Schließlich gibt es noch den historischen Konflikt des SDS mit Adorno in den Jahren 1968 und 1969, und dieser Konflikt ist ebenfalls zentral für die theoretische und politische Diskussion Adornos. Adorno hat sich der Studentenbewegung nicht offensiv angeschlossen und er hat u. a. das Institut räumen lassen. Andererseits sind die Schlüsse des damaligen SDS, insbesondere von Krahl, auch falsch, nämlich Adorno „faktisch“ der Komplizität mit den herrschenden Gewalten zu bezichtigen. Und während Krahl und andere (z. B. die Sponti-Gruppe „revolutionärer kampf“ in ihrem sogenannten Untersuchungspapier) in ihren Texten als Schüler Adornos die kritischen und emanzipatorischen Aspekte von Adorno im Kontext einer emanzipatorischen, auf revolutionäre Praxis ausgerichteten Reflexion verwendet haben, gehen sie zugleich zu weit, indem sie aufgrund ihrer Konfrontation Adorno mehr oder weniger umstandslos der Reaktion zuordnen.

Diese Konfrontation mit Adorno ist darum historisch, weil sie für viele in ihrer Einschätzung von Adorno als antiemanzipatorisch, praxisfeindlich und letzten Endes reaktionär auf diese historische Erfahrung rekurrieren. Zwar gibt es in Adornos Werk wiederum Argumentationen (universeller Verblendungszusammenhang, Totalität ohne Ausweg, Liquidation des Individuums), die dieser historischen Erfahrung einen Sinn geben im Kontext von Adornos Werk. Aber Adorno ist in seiner Theorie kein Reaktionär und er hat sich in vielen Aspekten praktisch im Sinne einer radikalen antifaschistischen Linken engagiert: Z. B. politischer Essayismus gegen den Heideggerianismus, regelmäßige populäre Radiosendungen, Aufbau des ersten Soziologie-Studiengangs in Deutschland, Überlegungen für eine „Erziehung nach Auschwitz“. Ein Beispiel für diese Haltung zu Adorno ist der Text von Georg Klauda in Karl Reitters Sammelband „Karl Marx“: Adorno wird in Gänze verdammt und aus der Linken exorziert. Und diese Haltung zu Adorno prägt viele, die praktisch aktiv sind.

Also, um kurz mal zusammenzufassen: Das Verhältnis zu Adorno ist kompliziert. Er wird neben Marx gestellt und zum Teil zu Recht, aber zugleich ist diese Nebenordnung schon aufgrund von Adornos Selbsteinschätzung falsch. Man kann Adornos Theorie heute nicht rezipieren, ohne ihre historischen Auswirkungen und die mit ihr verbundenen Weichenstellungen für die Linke zu diskutieren. Aus diesen Kompliziertheiten des Verhältnisses zu Adorno kann man in der Analyse nur herauskommen, in dem man die Theorie Adornos für sich studiert, in ihren eigenen Aussagen zur Kenntnis nimmt und vom Werk von Marx trennt, und die Bedeutungen für die Praxis herausarbeitet – im Guten wie im Schlechten. Und indem man Adornos politische Wirkung getrennt untersucht von seinem theoretischen Gehalt.