Die Idee der Konzentrationslager

Gestern waren wir im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen und wir haben danach lange über die Funktion oder die „Idee“ der Konzentrationslager (es ist sogar schon schwer, diese Frage richtig zu formulieren) diskutiert.

Die Konzentrationslager haben ein System gebildet, verbunden durch einheitliche Koordinierung, Verwaltungsapparat und Verschickungen zwischen den Konzentrationslagern durch Eisenbahnzüge. Die Konzentrationslager waren überall im Machtbereich. Wichtig ist, dass dazu nicht nur die großen, bekannten Namen gehören (Sachsenhausen, Auschwitz, Buchenwald), sondern es zahlreiche kleinere Außenlager gab und auch in quasi allen Städten kleinere Konzentrationslager gab, wobei „kleiner“ hier durchaus heißt mehrere tausend.

Das System der Konzentrationslager hatte ganz verschiedene Funktionen, von denen die meisten zu unterschiedlichen Zeiten im Vordergrund standen. Ich versuche eine unvollständige Liste:  

  • Einsperren von Kriminellen mit dem Zweck ihrer „Besserung“;
  • Extralage Einsperrung von militanten Feinden der NSDAP, um deren Arbeit zu verhindern;
  • Politischer Terror, also Abschreckung von antifaschistischem Widerstand durch extralegales Wegsperren, Entmenschlichung, Misshandlung;
  • Arbeitsterror mit dem Ziel, Disziplin und Unterwerfung in den Betrieben zu fördern, da sogenannte „Asoziale“ (langsame Arbeiter, Streikende, Sabotierende) ins KZ kamen;
  • Produktion eines gigantischen Heers von Sklavenarbeitern (Zwangsarbeitern), die eine wesentliche Grundlage der deutschen Ökonomie waren;
  • Aussondern und Ausgrenzen von Menschen, die die Nazis als nicht zugehörig zum sogenannten „Volkskörper“ ansahen – Menschen, die sie als minderwertig oder unwert ansahen und von denen sie den sogenannten „Volkskörper“ reinigen wollten (Homosexuelle, „Asoziale“);
  • Ausagieren der unmittelbaren Gewaltlust (Sadismus, d. h. Vergnügen am Leiden anderer Menschen durch ihr Misshandeln, Entwürdigen, Beschämen, Verletzen, und schließlich Töten) der SS-Mitglieder, d. h. ich verstehe das so, dass die SS die Konzentrationslager als eine Art perfiden Lustort angesehen haben, in der sie ihrer unmittelbaren Gewaltlust ungehemmt und ungestraft freien Lauf lassen konnten;
  • menschliche Versuchsobjekte für medizinische Experimente;
  • Massenvernichtung von Menschen – diese fand in großer Zahl auch außerhalb und unabhängig von Konzentrationslagern statt, aber in den Konzentrationslagern wurden Systeme zum automatischen Töten in hohem Takt entwickelt (u. a. Genickschussanlage, Kohlenmonoxid-Lastwagen, Gaskammern mit Zyklon B).

Diese Funktionen sind unterschiedlich und voneinander unabhängig. Es lässt sich auch nicht die eine Hauptfunktion nennen, die der eigentliche Zweck für den Aufbau der Konzentrationslager gewesen wäre. Diese Funktionen übten zunächst ihre Funktion aus. Sie stehen aber offenbar in einem bestimmten Zusammenhang, insofern sie alle Teil der Herrschafts- und Gewaltapparatur der Nazis waren.  

Aus meiner Sicht ist der Zweck der Konzentrationslager oder ihre „Idee“ nicht unmittelbar in diesen Funktionen zu suchen, d. h. nicht unmittelbar in dem, was die Konzentrationslager bewirkten, sondern in dem, was sie selbst darstellten: Die Konzentrationslager stellen einen Gesellschaftsentwurf dar. In den Konzentrationslagern konnten die Nazis die Welt, wie sie sie sich vorstellten, im Modell verwirklichen. Dies ist eine Welt der totalen, unveränderlichen Herrschaft, von Gewalt durchzogen, in der die Hierarchien absolut klar und unverbrüchlich sind, und in der der Willen der Herrschenden effizient und systematisch von oben nach unten exekutiert wird, und zwar so, dass niemand entkommt und es keine Chance auf Abweichen und Sich-Entziehen gibt.

Die Menschen werden unmittelbar sichtbar auf die Kategorie ihrer Inhaftierung reduziert, die dann auch die spezifische Weise ihrer Behandlung produziert: Jude, Kommunist, Asozialer, Homosexueller. Sie werden kahlgeschoren, erhalten eine Nummer, erhalten einheitliche Häftlingskleidung – ihnen wird Name, Unterschied von anderen und persönliche Bestimmtheit genommen. Es wird ein abgestimmtes System von Hierarchien von ganz unten (Juden) über verschiedene Stufen und Capos über die SS-Hierarchien bis zum „Führer“ des Lagers installiert. Das Lager wird so gebaut, dass von zentralen Sichtachsen aus jeder Winkel eingesehen wird. An zentraler und erhöhter Stelle wird ein großes Maschinengewehr installiert, mit dem jeder Winkel des Lagers bestrichen werden kann, als ständig sichtbare und ständig bereite Bedrohung für das Leben. Das Lager ist territorial begrenzt, wer den Todesstreifen betritt, wird erschossen. Dreimal am Tag treten alle Häftlinge zum Appell an, es wird jeder einzelne abgezählt. Fehlt jemand, bleiben alle solange stehen, bis der Gesuchte gefunden wird. Pausenlose Kontrolle.

Das Konzentrationslager ähnelt in vielem der Institution Gefängnis, wie so vor, nach und auch während des Faschismus existiert hat. Man müsste nun den Unterschied diskutieren. Offensichtlich gibt es im Gefängnis allerdings nicht die ständige Todesdrohung sowie den systematisch eingesetzten Gewaltexzess, und das Gefängnis ist Teil eines juridischen Systems – man gerät nicht willkürlich ins Gefängnis und es ist selbst wiederum durch rechtliche Normen strukturiert.

Die oben genannten Funktionen widersprechen dieser Idee nicht. Die Konzentrationslager wurden, wie ich denke, wegen dieser Idee gebaut, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht um der oben genannten Funktionen willen gebaut wurden. Ich sehe es eher so, dass die Idee der Konzentrationslager, als Modell der Welt, diese Funktionen in sich auf hebt. Diese Funktionen und andere sind gerade in diesem Modell möglich, ohne dass die Konzentrationslager zu jeder Zeit alle diese Funktionen ausüben müssen. In diesem Sinn bildet die Idee der Konzentrationslager den Zusammenhang dieser Funktionen.

Diese These von mir über die Konzentrationslager als Gesellschaftsentwurf der Nazis müsste man nun empirisch prüfen, indem man die internen Debatten der SS und die Befehls-Schreiben der Führungsetage der SS liest und auf die Begründungen für die Befehle hin analysiert.