Gegen Individualpsychologie, für Kulturtheorie

Es scheint mir in der kritischen Theorie des bürgerlichen Subjekts recht durchweg eine Verkürzung der Betrachtung auf das Subjekt als Individuum zu geben, im Gegensatz zu der eigentlich nötigen Betrachtung des Subjekts innerhalb der bürgerlichen Kultur (als Teil dieser Kultur, als konstituiert durch diese Kultur und als diese Kultur konstituierend).

Mit der kritischen Theorie des bürgerlichen Subjekts meine ich etwa die Sozialpsychologie des Antisemitismus oder die Theorie der ideologischen Unterwerfung/Zustimmung zum Kapitalismus.

Das Problem scheint es mir in den verschiedenen Richtungen der kritischen Subjekttheorie zu geben: Theorie des autoritären Charakters; Subjektivierung; Wertkritik (das Subjekt als der Wert).

Um ein Missverständnis auszuschließen: Das Verhältnis von Subjekt und Kultur ist unbedingt nicht das von Subjekt/Individuum und Gesellschaft. Es kommt zwar darauf an, wie man hier Gesellschaft fasst, aber üblicherweise wird Gesellschaft ökonomisch gefasst, nämlich in folgenden Kategorien:  Warentauschs; Konkurrenz am Arbeitsmarkt; Lohnarbeit; klassenspezifische Lebensbedingungen (z. B. Kleinbürgertum). Mit Kultur meine ich aber nicht diese ökonomischen Kategorien, sondern z. B. die bürgerlichen Familie, den Antagonismus von Bildungsbürger und Kultur-Unterbürger oder den Rückzug in die Subkultur.

Das steht daher im Gegensatz zu häufigen Diskussionen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, wie es prominent Adorno in „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“ tut, ein Text, der zu diesem Thema viel gelesen wird. Es ist nicht falsch, das Verhältnis von Individualpsychologie und Ökonomie, wie Adorno es tut, zu betrachten, aber falsch ist es, was Adorno darin behauptet, nämlich eine Konstitution der entfremdeten Subjektivität innerhalb und durch die kapitalistische Ökonomie. Diskutiert werden müsste vielmehr das Verhältnis von Ökonomie und Kultur, mit dem Subjekt als Moment dieser Kultur, wobei ich nicht denke, dass die bürgerliche Kultur in dem Adornoschen Sinne durch die kapitalistische Ökonomie „konstituiert“ ist.

Das Subjekt „innerhalb der Kultur betrachten“ bedeutet, dass das Subjekt in seiner konkreten Bestimmtheit nur in spezifischen Kultur-Kontext wie den genannten Beispielen betrachtet werden kann. Mit seiner geschlechtlichen Identität (z. B. als Mann) kann es nur vor dem Hintergrund der bürgerlichen Familie betrachtet werden (auch wenn das empirische Individuum „Mann“ im Augenblick oder nie in einer Familie lebt), aber den Mann als Geschlechtsidentität überhaupt betrachten wäre eine verkürzende Abstraktion.

Man kann den Begriff des Subjekts abstrakt untersuchen und etwa Kennzeichen wie Ich-Identität durch Abgrenzung, Streben nach Anerkennung durch Unterwerfung u. a. herausarbeiten. Aber diese abstrakte Untersuchung müsste in dem Wissen geschehen, dass Subjekt eine Abstraktion aus der Kultur ist und nur innerhalb spezifischer Kultur-Kontexte wirklich ist, in denen das Subjekt unterschiedliche konkrete Bestimmungen erhält.

Diese Verhältnis ist ungefähr dasselbe, wie wenn man bei Marx bloß den Begriff des Kapitals aus dem 1. Band studiert. Dort wird das Kapital abstrakt betrachtet, und das ist in Grenzen auch richtig und notwendig, aber Kapital ist nur wirklich innerhalb eines gesellschafts-umgreifenden Gesamtkapitals, in dem es verschiedene konkrete Kapitalien mit spezifischen Bestimmtheiten gibt (z. B. als Industriekapital, Handelskapital, Geldkapital). Das Einzelkapital ist letztlich nur innerhalb des Gesamtkapitals zu denken.

Ich gebe zwei Beispiele für Verkürzungen in der Subjekttheorie: Klassismus wird meist so erklärt, dass Bildungsbürger andere abwerten und sich dadurch selbst erhöhen, indem sie sich mit ihrem Wissen über Goethe, Schiller etc. schmücken; dabei ist aber die Anerkennung dieser Bildungsinhalte innerhalb einer Kultur vorausgesetzt, also auch ihre Anerkennung durch die Abgewerteten. Klassismus kann daher so individualpsychologisch nicht erklärt werden. Ein anderes Beispiel: Verschwörungstheorie. Sie wird oft so erklärt, dass man eine komplexe und widersprüchliche Welt, die man nicht ertragen kann, auf eine einfache Ursache reduzieren kann; oder ebenfalls wieder durch die Selbsterhöhung gegenüber dem „manipulierten“ Rest, dass man die höhere Einsicht in die wahren Mechanismen der Welt hat. Auch Antisemitismus wird oft individualistisch erklärt als Resultat der Triebunterdrückung – die aggressiven Impulse werden nach außen auf die Juden projiziert und dann dort bekämpft, statt im eigenen Ich.

Eine wichtige Ursache für diese Verkürzungen der Subjekttheorie liegt wahrscheinlich bei Freud, genauer in seinem Gründungs-Text für die Massenpsychologie, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ von 1921. Sein Anliegen war es, „die Psychologie der Masse in Individualpsychologie umzuwandeln“ (Studienausgabe Bd. IX, S. 116) und die Kollektivstruktur der Masse auf gleichartige Identifizierungen zwischen den Individuen zurückzuführen, so wie es in der „Formel für die libidinöse Konstitution einer Masse“ (a. a. O. S. 108) zusammengefasst ist. Freuds Begriffs der Masse meint hier nicht nur den hetzenden „Mob auf der Straße“, sondern ebenso auch dauerhafte Massen wie die Religion oder das Militär, d. h. also spezifische kulturelle Formationen.

Die Herkunft der marxistischen Verbindung von Ökonomiekritik und Subjektkritik kommt aus der Erfahrung des Faschismus: Die Unterwerfung des Proletariats unter den Faschismus konnte nicht mehr ökonomisch erklärt werden, also haben Wilhelm Reich und dann Erich Fromm versucht, die psychoanalytische Theorie des masochistischen Charakters dafür zu nutzen: Der masochistische Charakter empfindet Lust an seiner eigenen Unterwerfung. Aber diese Theorie des Faschismus war eine rein subjekttheoretische, und ich denke, dass Ideologien wie Antisemitismus, Nationalismus, Volk nur kulturtheoretisch, nicht aber individualpsychologisch erklärt werden können.

Ernst Simmels Text „Antisemitismus als Massenpsychose“ versucht vielleicht einen genuin massenpsychologischen Weg.

Die Frage ist also: Gibt es genuin marxistische Kulturtheorien? Ich denke, etwa die folgenden:

  • Bourdieu: „Die feinen Unterschiede“
  • Walter Benjamin: „Passagen-Werk“
  • Adorno/Horkheimer: „Dialektik der Aufklärung“, darin z. B. das Kulturindustrie-Kapitel

Allerdings scheint mir, dass diese Texte ganz überwiegend nicht kulturtheoretisch gelesen werden, sondern z. B. das Kulturindustrie-Kapitel nur als Theorie der Unterhaltungs-Kunst.