Marxistische Adorno-Lektüre mit Krahl

Obwohl Adorno für die marxistische Diskussion zentral ist, ist seine produktive Rezeption in der Perspektive einer praktischen Emanzipation heute ziemlich blockiert. Einen solchen Zugang zu Adorno kann Krahl eröffnen und seine Frage, wie eine marxistische, praktisch-revolutionäre Rezeption Adornos (und der Frankfurter Schule) aussehen kann.

Das Problem für die heutige Adorno-Rezeption sind die vorherrschenden Deutungsmuster von Adorno (und ich meine hier nur die antikapitalistischen, nicht die bürgerlichen wie Habermas). Weil diese Deutungsmuster jeweils für sich beanspruchen, selbstverständlich richtig zu sein, ist es unglaublich schwer, unabhängig von diesen Deutungsmustern zu denken. Ich meine das so in der Unmittelbarkeit des Lesens, d. h. dass man Adorno heute fast nicht anders lesen und verstehen kann als es diese Deutungsmuster vorgeben.

Ich habe dabei die folgenden Deutungsmuster vor Augen:

  1. Die Heiligenverehrung: ADORNO wird gewissermaßen großgeschrieben und wird zum zentralen theoretischen Bezugspunkt. Adorno wird strikt vom Marxismus getrennt. Die Praxis dieses Deutungsmusters ist eine rationalistische, denunzierende Ideologiekritik, deren Hauptgegenstand der Antisemitismus ist.
  2. Die Gleichsetzung von Marx mit Adorno und wieder die strikte Trennung vom Marxismus. Adorno wird als Weiterführung von Marx angesehen, die Unterschiede zu Marx aus einem veränderten historischen Moment erklärt. Adornos fehlerhafte Interpretationen Marxscher Begriffe (wie Entfremdung, Fetisch oder Äquivalententausch) werden ungefragt als die Marxschen übernommen, und die deutliche Differenz von Marx und Adorno (siehe z. B. die Begriffe Kapital oder Kritik) wird nicht gesehen.
  3. Die Verurteilung Adornos in Bausch und Bogen: Wieder wird Adorno strikt vom Marxismus getrennt, und nun als Feind revolutionärer Praxis rundherum abgelehnt (was auch wieder falsch ist). Dies kommt aus dem Lager des autoritären leninistischen Marxismus.

Für die unmittelbare Lektüre und dann die Diskussion so zwingend werden diese Deutungsmuster wohl aus zwei Gründen: Zum einen repräsentieren sie nicht nur philosophische Rezeptionsrichtungen, sondern vor allem auch intellektuelle politische Strömungen. Zum anderen geht es gerade diesen Deutungsmustern in ihrer Deutung darum, die anderen vehement als Unsinn zu bekämpfen, d. h. ihre Identität begründet sich wesentlich aus der Abgrenzung gegen die anderen; und an dieser Selbstbehauptung hängt wiederum umso mehr, als sie eben auch eine politische Identität behaupten muss.

Allerdings funktionieren diese Deutungsmuster nicht, zum einen weil Adorno in wesentlichen Punkten mit Marx bricht, und zwar so, dass er zu verkürzten bis ideologischen Positionen kommt. Zum andern kann man aber Adorno aus der marxistischen Geschichte nicht einfach herausstreichen, weil damit ganz wesentliche Argumente verloren gehen.

Zum einen: Adorno bricht mit Marx: Adorno macht selbst kein Geheimnis daraus, dass er mit Marx in wesentlichen Punkten bricht. Beispielsweise besteht der Auftakt seiner „Negativen Dialektik“ gerade in der Revision der 11. Feuerbachthese, das heißt, nach Adorno könne es heute nicht um die Veränderung der Welt gehen (diese ist „auf unabsehbare Zeit vertagt“), sondern wiederum um Philosophie als solche. Anders als Marx spricht er wieder affirmativ von „Menschheit“, „Ideal“ oder „individueller Autonomie“, ist damit jedenfalls genuiner Philosoph. Das kann man ideengeschichtlich als Rückgang von Marx zum Linkshegelianismus einordnen, Adorno selbst ordnet sich implizit dem Linkshegelianismus zu (Negative Dialektik, S. 146) und explizit „zwischen“ Marx und Hegel (a.a.O., S. 147) ein, d. h. Adorno zieht bestimmte Marxsche Theoreme ein und hält zugleich die Kritik an Hegel für zentral.

In Bezug auf konkrete Kategorien ist Adorno für problematische Interpretationen zu kritisieren. Das betrifft zentral Äquivalententausch und Warenfetisch sowie die fehlenden bzw. äußerst mangelhaften Theorien von Kapital und Klasse.

Zum andern: Er ist entscheidend für die marxistische Diskussion: Adorno liefert einige konkrete Untersuchungen, die für ihre jeweiligen Themen einschlägig sind und an denen man bei einer heutigen Beschäftigung kaum vorbeigehen kann: So zum Antisemitismus, zur Kulturindustrie (der Begriff stammt von ihm und Horkheimer), zur Kritik an Positivismus und Phänomenologie (namentlich Heidegger), zur Hegel-Kritik.

Über diese konkreten Studien hinaus steht er aber, aus meiner Sicht, für systematische Thesen, die zentral sind für einen heutigen Marxismus:

  • Die Kritik an den autoritären Tendenzen der Arbeiterbewegung und am orthodoxen Marxismus (Lenin, Geschichtsdeterminismus, Diamat, sowjetische Philosophie);
  • das subtile Herausstellen von Repressivität und Entfremdung im Subjektiven und Kulturellen, und zwar in konkreten Phänomenologien (einschlägig in den „Minima Moralia“);
  • der durchgehende Nachweis, dass bürgerliche Ideale (z. B. Vernunft, Gleichheit) in Herrschaft und Barbarei umschlagen („Dialektik der Aufklärung“), damit dass der Faschismus aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht;
  • die Kritik an einem Hegelmarxismus, der sich positiv auf Totalität und Dialektik bezieht, stattdessen die negative Konzeption der dialektischen Begriffe als negative Wirkung von sozialen Isolationen und den daraus resultierenden herrschenden Abstraktionen;
  • eine Konzeption von Sozialpsychologie, die subjektive Erfahrungen (Angst, Schuld), die Widersprüche der individuellen Psychologie, die Formen der Psyche (Narzissmus, Ich) ganz prinzipiell im Verhältnis zu Gesellschaft denkt (v. a. „Studien zum autoritären Charakter“, „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“);
  • und insgesamt eine theoretische Reflexionsweise, die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Kulturkritik, Ideologiekritik sowohl in ihren konkreten Gegenständen (von Hegel über den autoritären Charakter bis hin zu Samuel Beckett) zusammendenkt oder umgekehrt die Totalität aus Ökonomie, Individuum, Kultur anvisiert.

Diese Thesen sind sicherlich nicht nur von Adorno zu lernen, sondern auch etwa von Korsch, Fromm, Lukács, Reich. Aber ich denke, dass sie bei niemand so vollständig zusammengehen, und vor allem dass Adorno diese Thesen auch in der heutigen Diskussion repräsentiert.

Um zu resümieren: Ohne Adorno geht’s nicht, man kann kaum an seinen Argumenten vorbeigehen. Aber man kann sie nicht direkt marxistisch rezipieren, man muss sie durch eine marxistische Kritik hindurch rezipieren. Das heißt auch, man braucht insgesamt einen Zugang zu Adorno, der seine Thesen differenziert zu diskutieren und in der Lage ist, problematische Behauptungen zurückzuweisen und triftige Kategorien und Diagnosen in kritischer Weise anzueignen.

Diesen Zugang kann man über Krahl erhalten, der als Schüler Adornos ihn sehr genau kannte, und anders als Adorno aber in einem antiautoritären marxistischen Interesse dachte und seine theoretischen Reflexionen immer praktisch auf Möglichkeiten und Probleme revolutionärer Praxis bezog. Krahl bezieht sich in seinen Schriften immer wieder zentral auf Adorno und arbeitet sich zugleich an ihm ab. Er arbeitet heraus, wo seine inneren Widersprüche und Defizite liegen. Krahls Frage war, wie die Kritische Theorie von einer marxistischen Theorie mit praktischem emanzipatorischem Interesse angeeignet werden kann.

Diese Frage trieb sicherlich nicht nur Krahl um, sondern viele Studenten um 1968, die zum großen Teil von der Kritischen Theorie herkamen, aber praktische Konsequenzen aus ihr ziehen wollten. Sie war also nicht bloß seine individuelle Frage. Allerdings scheint mir genau diese Frage und das mit ihr verbundene „Deutungsmuster“ Adornos mit dem Zerfall der Studentenbewegung abgebrochen, stattdessen ist die Interpretation Adornos in die oben genannten Deutungsmuster blockiert, bzw. nur diese sind heute als allgemein bekannte Deutungsmuster verfügbar. Genaugenommen muss man sagen: Bei dieser Frage an Adorno aus praktisch emanzipatorischem Interesse handelt es sich eigentlich nicht um ein Deutungsmuster, sondern eher um die Frage, wie Adornos Thesen durch eine sehr grundsätzliche Kritik an ihm hindurch für einen antiautoritären revolutionären Marxismus angeeignet werden.

Nun: Wie Krahl lesen? Das Problem ist, dass Krahl heute (sowie die Diskussion über Adorno um 68) heute kaum mehr bekannt ist, und dass er andererseits auch keine eigentlichen Werke hinterlassen hat. Es war ihm auch schwer, da er schon mit 27 Jahren (1970) sterben musste. Es gibt diverse kleinere Texte und nachgelassene Schriften, aber die Orientierung darin ist ziemlich schwer.

Für den Einstieg ist der kleine Text von Detlev Claussen (einem damaligen Genossen von Krahl) sehr hilfreich: http://www.krahl-seiten.de/claussen.pdf. Alex Demirovic stellt die Konflikte zwischen Adorno und Krahl im Kontext der Frankfurter Studentenbewegung dar: „Bodenlose Politik – Dialoge über Theorie und Praxis“, in: Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. In dem umfangreichen Essay „Für Krahl“ handelt Helmut Reinicke die Themen Krahls ab, u. a. sein Verhältnis zur 68er Revolte, seine Kritik der Kritischen Theorie, seine Hegel-Kritik, seine Lektüre von Lukács‘ Organisationstheorie, die „neuen“ Emanzipationskategorien der Subjektivität, seine Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie: http://theoriepraxislokal.org/rev+s/krahl.php, auch 1973 beim Merve Verlag erschienen und antiquarisch gut erhältlich.

Krahl selbst ist, soweit ich weiß, über die folgenden Bücher zu lesen:

Einschlägig: „Konstitution und Klassenkampf“, Verlag Neue Kritik, eine Textsammlung. Empfehlenswert für eine erste Lektüre sind: „Der politische Widerspruch der kritischen Theorie Adornos“, „Angaben zur Person“, „Kritische Theorie und Praxis“, „Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein“.

„Erfahrung des Bewusstseins“, ein Hegel-Kommentar (der m. E. nicht wirklich gut ist)

„Vom Ende der abstrakten Arbeit“, Materialis Verlag, enthält vor allem die Entwürfe zu Krahls Doktorarbeit.