Natur, Ökologie, Materialismus

Ich versuche einen Naturbegriff zu skizzieren oder einige erste Gedanken für den Weg zu einem Naturbegriff zu formulieren, in dem Natur als ein organischer Körper aus Elementen/Individuen gedacht ist, Natur uns prinzipiell entzogen ist, Natur die (unverfügbare, nicht fassbare) Bedingung menschlicher Bedürfnisse ist, der Grund der Nichtfassbarkeit die quantitative Unermesslichkeit organischer Wechselbeziehungen ist. Dies soll ein weiterentwickelter und zeitgemäßer Materialismus im Anschluss an Marx sein.

In diesem Naturbegriff ist Natur nicht das Andere der Menschen/Gesellschaft ist, sondern die Natur ist „unser Leib“ (Marx: Die Natur ist der anorganische Leib des Menschen) in Form einer nicht verfügbaren Bedingung ist, angefangen mit unserem eigenen Körper, zweitens mit dem Körper des menschlichen Kollektivs (Federicis Reproduktionsbegriff), drittens mit der Erde als einem komplexen Organismus, viertens die Natur als Kosmos (Planetensystem, usw.).

Dies hat schließlich Konsequenzen dafür, wie wir ökologische Zielsetzungen verstehen (in Bezug auf etwa Klimawandel, Massentierhaltung, Verschmutzung der Weltmeere), und es hat daher schließlich eminent praktische Bedeutung.

Ein solcher materialistischer Naturbegriff, in dem die Gesellschaft nicht als Gegenteil gedacht ist, sondern als Teil der Natur, die zugleich die Bedingung für Gesellschaft ist und in der die Gesellschaft und ihre Arbeit/Entwicklung im Wechselverhältnis zu Natur steht und diese Natur dabei auch verändert, wäre die Grundlage dafür, die kapitalistische Entfremdung zwischen Natur und Gesellschaft zu denken – in der Natur als Anderes der Gesellschaft erst entsteht, d. h. die Natur als „Anderes“ ist eine ideologische Erscheinung der Natur, zugleich wird sie wirklich als solches Anderes behandelt.

Ich versuche dies zu durchdenken anhand verschiedener Zielsetzungen der Ökologiebewegung.

1.

Die übliche Haltung von Umwelt-Aktivistinnen ist die, dass die Menschen bzw. der Kapitalismus die Natur zerstören, sie immer mehr zurichten und vernichten, bis es bald zu spät ist. Die Regenwälder werden aus kapitalistischem Profitinteresse abgeholzt, seltene Tierarten werden aus Geldgier gejagt und ausgerottet, es wird immer mehr Kohlenstoffdioxid in die Luft gejagt, Wälder werden für Autobahnen vernichtet, usw. Man muss die Wälder, die Tierarten usw. schützen, weil sie nicht für sich selbst eintreten können, und weil sie Zwecke für sich selbst sind. Es ist unhinterfragbar selbstverständlich, dass diese Dinge unmittelbar für sich in ihrer heutigen Existenzform bewahrt werden müssen. Was aktuell droht, ist die „Zerstörung des Planeten“.

Aber dies ist letztlich eine schwierige Haltung. Der Planet wird sicherlich nicht zerstört. Tierarten sind in der Erdgeschichte immer ausgestorben und wurden durch andere abgelöst, auch auf einer massiven Skala (mehrfache Massenaussterben). Das Klima hat sich auch immer verändert, war zum Teil wärmer als heute und zum Teil viel kühler und unwirtlicher. Eher scheint es also insgesamt darum zu gehen, dass der Planet in einer Weise erhalten werden soll, in dem menschliches Leben ungefähr so wie heute weiterbestehen kann, ohne dass Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren. Aber dass wir die Natur überhaupt nicht verändern sollen, macht keinen Sinn, denn die Menschheit hat die Natur immer verändert, seit es sie gibt, und menschliche Arbeit und Existenz ist gar nicht denkbar, ohne dass Natur ganz massiv verändert wird (siehe z. B. Düngung, Antibiotika, Holz für Häuserbau). Eher scheint es dann darum zu gehen, dass die Menschen bestimmte Zwecksetzungen haben, die ihre materiellen Bedürfnisse betrifft, aber auch „ästhetische“, also für den Erhalt von Landschaften, Wäldern, Pandabären.

2.

In einem zweiten, sozusagen reflektierten Verhältnis zur Umwelt wäre die Umwelt also zu bewahren und zu schützen, aufgrund der eigenen Interessen der Menschen. Die Umwelt ist dann Ressource und Mittel für die Menschen. Wenn wir diese Ressourcen zerstören, dann handeln wir unzweckmäßig-unvernünftig gegen unsere eigenen Interessen.

Das Problem mit dieser Haltung ist nicht, dass die Natur „eigentlich“ Zweck an sich wäre, der nicht ausgebeutet/unterdrückt werden dürfte, sondern dass Natur nicht so als bloße Ressource kontrolliert werden kann, weil sie keine Maschine ist. Das heißt wir können sie mit wissenschaftlichen Mitteln nicht vollständig berechnen, sie ist in diesem Sinne für uns nicht fassbar, und unsere Versuche, sie zu kontrollieren und für vordefinierte Zwecke zuzurichten, haben fast immer massive, unkontrollierbare und denkbar schlechte Nebenfolgen (vergleiche nur den Klimawandel als Effekt der Industrialisierung, oder die Produktion des Corona-Virus durch die Massentierhaltung).

Die Natur kann mit wissenschaftlichen Mitteln nicht gefasst werden, nicht weil sie „an sich“ wäre, und jedes Gesetz die Natur aus kategorialen Gründen verfehlen muss, sondern weil die Naturwissenschaft immer nur bestimmte definierte Ausschnitte der Natur behandeln kann, und die beobachteten Gesetzmäßigkeiten nur unter spezifischen Einschränkungen und Voraussetzungen zutreffen. Das gilt für alle Naturwissenschaften – Physik, Chemie, Biologie, Medizin. Jedes Element der Natur steht in unermesslich vielen Wechselbezügen zu anderen Elementen, die wir aufgrund dieser quantitativen Übersteigung nicht zu fassen kriegen können. Beispielsweise ist das Wetter auf der Erde ein immens komplexer Prozess aus Sonneneinstrahlung, Erdrotation, Gravitationskraft des Mondes, Strömungen der Weltmeere, Feuchtigkeit und Luftdruck in verschiedenen Atmosphärenschichten, uvm. Die Meteorologie arbeitet ständig daran, immer genauere Modelle auszuarbeiten, um das Wetter möglichst genau vorhersagen zu können. Trotzdem wissen wir alle, dass die uns täglich präsentierten Wetterberichte immer nur ungefähr stimmen und oft auch voll daneben liegen.

Und eben aufgrund dieser quantitativ übersteigenden Wechselbezüge der Natur ist es uns nicht möglich, sie als Maschine zu kontrollieren, weil uns mit Sicherheit immer irgendetwas entgeht, was wir einfach nicht bedacht hatten, falsch berechnet hatten oder für das wir in der Prognose noch erst unzureichende Formeln verwandt hatten. Beispielsweise gibt es eine starke Fraktion in der Klimabewegung, die dem Klimawandel entgegenwirken will, indem das Wetter kontrolliert wird. Ein konkreter und wohl auch umsetzbarer Vorschlag ist, nicht die Kohlenstoffdioxid-Emissionen herunterzufahren, sondern bestimmte Moleküle in die obersten Atmosphärenschichten zu pumpen, die das Sonnenlicht reflektieren und dadurch die Erderwärmung verhindern. Wir können aber nicht sagen, was dadurch passieren wird – wie lange bleibt das da oben, können wir das lange genug da hinaufpumpen, kriegt man es wieder weg, wenn zukünftige Generationen wieder mehr Sonnenlicht brauchen, hat es schlimme unvorhersehbare Wirkungen auf Wetter und chemische Reaktionen?

Es kann nicht falsch sein, die Natur nicht zu verändern und nicht zu berechnen, um menschliche Zwecksetzungen zu erreichen. Es kann auch richtig sein, diese reflektierenden Moleküle in die Atmosphäre zu pumpen. Das Problem ist aber, dass Natur keine Maschine ist, und dass wir sie eben nicht kontrollieren können.

3.

Deswegen versuche ich einen anderen Naturbegriff zu formulieren und vorzuschlagen. Und zwar wäre in diesem Begriff die Natur eine Art von Kollektivkörper aus zahlreichen Elementen/Individuen, die sich untereinander in Wechselwirkungen befinden, und dieser Kollektivkörper ist die Bedingung für menschliches Leben und für menschliche Zwecksetzungen. Diese „Bedingung“ oder vielmehr ein komplexes Ensemble, eine komplexe interconnectedness und Verschränkung von Bedingungen, und wir sind Teil dieser interconnectedness. Diese Bedingung ist unhintergehbar – wir können nicht ohne sie. Unsere Zwecksetzungen werden durch sie erst in Existenz gebracht, zugleich ist sie die Voraussetzung für diese Zwecksetzungen, wobei aber jede Zwecksetzung Natur verändert. Die Natur ist unserem Zugriff entzogen, als ein „unvordenklicher Grund“ (Schelling), den wir niemals vollständig auf die Matte bringen können.

Die Natur ist hier nicht das Andere, das uns gegenübersteht – sei es als Zweck an sich oder als bloßes Mittel. Sie ist vielmehr ein Körper, zu dem wir in einem Verhältnis stehen und zwar so, dass wir dieser Körper in gewisser Weise „sind“. Es gibt ein Art von Identität mit diesem Körper, als „unser Körper“. Das betrifft nicht nur unseren unmittelbaren Leib, sondern zum Beispiel auch den kollektiven Körper der Menschheit (Sex, Fortpflanzung, Hygiene, virale Ansteckung, Stärkung der kollektiven Lebensgeister durch Musik). Es ist erst der Kapitalismus, der in die Menschheitsgeschichte dieses Verhältnis zur Natur hineingebracht hat, als dass sie uns fremd ist und nicht unser Körper ist.

Mit organischen Wechselbeziehungen meine ich etwa folgende: Die Bienen sind nötig für die Fortpflanzung der Pflanzen, diese wieder für die Ernährung der Pflanzenfresser, usw.

Ein Beispiel für die Entzogenheit/Unverfügbarkeit der Natur, die wir nicht kontrollieren  können, ist das weltweite Klima von Viren und Bakterien, die in unseren Körpern leben und sich ständig fortentwickeln, die aber auch in Tieren leben, und mit denen wir interagieren, indem wir Antikörper entwickeln, die wir zum Teil auch für unsere Ernährung brauchen, und auf die wir auch durch die Produktion von Antibiotika oder die bestimmte Haltung von Tieren einwirken. Dieses Klima ist unglaublich komplex und die Naturwissenschaft ist weit entfernt davon, es berechnen zu können, auch wenn natürlich schon viel verstanden wird. Dieses Klima ist auch wiederum abhängig von anderen Faktoren wie Wärme und Gaszusammensetzung der Luft und es gibt natürlich innerhalb dieses Klimas etliche verschiedene Viren und Bakterien, die untereinander interagieren.

Diese ganze Reflexion soll auf einen Naturbegriff zusteuern, in dem Arbeit und Natur gerade nicht getrennt sind, in der es gerade kein Tabu ist, Natur zu verändern oder zu „zerstören“, sondern dies eben selbst als Teil der Natur gesehen wird. Es wäre also ein sozusagen weiterentwickelter und zeitgemäßer Materialismus im Anschluss an Marx, prinzipiell in dem Sinne, dass die Natur die Grundlage ist, aber die Arbeit Teil der Natur ist.

Ich habe ein bisschen versucht, mich an den Vorstellungen des frühen Schelling (des nicht-reaktionären Schelling) zu orientieren, der das Verhältnis von Natur und Selbstbewusstsein ungefähr so denkt wie ich gerade, d. h. Natur als unverfügbare Bedingung, die uns entzogen ist und die wir nur ahnen können, die zugleich „uns selbst“ (Selbstbewusstsein) hervorbringt, und schließlich unsere „Identität“ („wir selbst“) ist, ohne dass wir diese Identität jemals auf die Matte bringen könnten.

Hier würde es sich nun lohnen, die oft erwähnten und kaum diskutierten Einflüsse von Schelling auf Marx zu berücksichtigen (siehe dazu die Arbeiten von Schmied-Kowarzik).

4.

Zur Diskussion des Naturbegriffs schlage ich vier Ebenen vor:

(I) Der individuelle Körper des Menschen.

(II) Der kollektive Körper der Menschheit. Dies zum Beispiel in Anschluss an Federicis Reproduktionsbegriff.

(III) Die Erde als eine organische „Totalität“ (interconnectedness) aus Menschen, Tieren, Pflanzen, Mikroben, Weltmeeren, usw. Organisch soll heißen: Sich durch die Verschränkungen reproduzierend, aber nicht als „stabiles Gleichgewicht“, sondern sich in dieser Reproduktion ständig verändernd.

(IV) Der Kosmos, da auch die Erde nicht allein für sich steht, sondern in diversen Wechselwirkungen steht, beispielsweise das Sonnenlicht; das Magnetfeld der Erde, das durch den Mond erzeugt ist, und die Erde vor Strahlung von der Sonne schützt; die großen Planeten, vor allem Jupiter, die die Erde vor Meteoriten schützen; das gesamte Planetensystem, durch das die Erde an ihrem „richtigen“ Platz (nicht zu warm, nicht zu heiß) bleiben kann; die Schönheit des Sternenhimmels.