Subjekt und Ideologie außerhalb der imperialistischen Zentren?

Kann eine Theorie von bürgerlich-kapitalistischer Subjektivität und Ideologie für Gesellschaften der Semiperipherie und Peripherie in derselben Weise gelten wie für die Metropolen?

Die Frage hat sich mir jedenfalls gestellt, als ich in Ägypten unterwegs war. Man könnte die Situation dort mit dem Europa des 19. Jahrhunderts vergleichen, vor der „Verbürgerlichung des Proletariats“, als Proletariat und Landbevölkerung zwar Teil des Kapitalismus, aber trotzdem noch nicht vollständig integriert waren.

Von vornherein kann man ja schonmal sagen, dass diese Gesellschaften zu Teilen nicht durchkapitalisiert und die Individuen nicht vollständig in Geldbeziehungen eingebunden sind, auch wenn diese nichtkapitalistische Verhältnisse meist vollständig in die kapitalistische Ökonomie des Peripherie-Landes und auch den Weltmarkt eingebunden sind. Jedenfalls kann man diese Verhältnisse nicht mit den Kategorien des „Kapital“ analysieren, warum sollte also das für Subjekt und Ideologie gelten?

Um Kriterien für diese Frage zu finden, kann man folgendes sagen: Bürgerliche Subjektivität heißt zumindest, dass man sich als individuelles Ich von anderen abgrenzt und sich als ein Selbst weiß, das dann auch entsprechend seinen Wert anderen gegenüber inszenieren und von ihnen anerkannt bekommen muss. Bürgerliche Ideologie heißt zumindest, dass sich die Individuen in „ihrem“ Kollektiv als sich selbst erkennen, darin aufgehoben fühlen und dies überall als ganz selbstverständlich wahrnehmen.

In der ägyptischen Gesellschaft der Gegenwart haben wir nun verschiedene Faktoren, die eine erhebliche Abweichung von westlichen Ländern darstellen. Das betrifft die Stellung der Religion, die Stellung des Militärs und des Staates, sowie schließlich auch die nichtkapitalistischen Verhältnisse der Individuen. Soweit ich es einschätzen kann, ist dies in Brasilien und der Türkei in etwa vergleichbar, und wahrscheinlich auch in anderen Ländern der Semiperipherie.

Das Interesse meiner Analyse ist eine soziologisch informierte Einschränkung der Gültigkeit und Anwendbarkeit der Kategorien marxistischer Subjekt- und Ideologiekritik.

In Ägypten hat zunächst der Staat eine ganz andere Rolle, was Bedeutung für die Rolle des Nationalstolzes und des Patriotismus haben sollte. Der Staat ist in gewisser Weise viel weiter von den Leuten entfernt, d. h. er spielt im Alltag nicht die durchgreifende Rolle wie bei uns. Es ist viel weniger reguliert und vieles wird von den Leuten selbst geregelt oder es werden die staatlichen Regeln nicht akzeptiert. Der Staat begegnet ganz überwiegend als repressive Macht, hier aber ganz wuchtig und breit. Ägypten ist allerdings derzeit eine Militärdiktatur. Die Polizei ist quasi überall postiert und kontrolliert überall und durchgängig, sei es dass man in einen Nationalpark will, in die Metro hinuntergehen will oder auf einer Brücke stehenbleibt. Der Staat wird gemeinhin als eine andere Macht, als eigenständiger und fremder Apparat wahrgenommen, auf den mehr oder weniger keiner Bock hat. Das Wiedererkennen der Nation in „ihrem“ Staat kann da dementsprechend nicht besonders gut funktionieren. Es gibt natürlich konservative Leute, die entsprechend patriotisch mit dem Militärregime sind, oder liberale Leute, die „ihre“ Nation gegen das Militärregime verteidigen wollen, aber das scheinen mir dem Gefühl nach eher die bessergestellten städtischen Bürger zu sein, die ja eben auch in einer bürgerlichen Kultur aufgewachsen sind und leben.

Dann hat die Religion ein wirklich ganz anderes Gewicht als bei uns, und zwar eine Religion, die soweit sie es kann, das Privatleben, die Politik und das Recht kontrollieren will, also eigentlich vormodern ist. Man kann das ganz handfest erleben, wenn fünfmal am Tag die Muezzins zum Gebet rufen und wirklich ohrenbetäubend laut das „Allah akbar“ durch die Stadt dröhnt; das kommt dann auch auf jedem Radio- und Fernsehkanal. Ganz konkret kann eine Frau richtig krasse Probleme bekommen, wenn sie vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verliert. Der Gestaltungsanspruch des Islams hat sich bei dem Sieg der Muslimbruderschaft bei den Wahlen 2012 gezeigt, als Mursi zum Präsidenten gewählt wurde. Wer in eine muslimische Familie hineingeboren wurde, dann aber zu einer anderen Religion konvertiert (z. B. zum verbreiteten koptischen Christentum), der muss sehr realistisch Gewalt durch bestimmte muslimische Gruppen fürchten. Natürlich ist nicht jeder religiös und natürlich hat auch dieser Islam seine Widersprüche und Freiheiten. Aber die Form der Religion scheint mir nicht mit dem typischen säkularen Christentum der westlichen Staaten vergleichbar, das erheblich depotenziert ist und sich als eine private Ideologie neben andere stellt. Das „freie“ kollektive Selbstbewusstsein, in dem jeder einzelne „spontan“ und „selbständig“ darin ist, weil er darin sein will, z. B. im Patriotismus, Antikommunismus, Kulturindustrie usw., wird durch so eine Religion ziemlich deutlich konterkariert. Diese Religion ist natürlich nicht überraschend stark in den ländlichen Gegenden mit Agrikultur und in den Slums der Großstädte, dort haben auch die islamistischen Muslimbrüder ihre Anhänger.

Es gibt große Bereiche von Lebensverhältnissen, die nicht bürgerlich sind und wo ich nicht sehe, dass darin ein „Ich“ und ein Streben nach selbständigen Wert und Anerkennung eine besondere Rolle spielen kann. Es sind zum einen feudale Strukturen in der Agrikultur und bei den Beduinen, zum anderen das Proletariat (damit meine ich hier körperliche arbeitende Lohnarbeiter) und das enorm große Subproletariat, das sich durch alle möglichen informellen Tätigkeiten über Wasser hält. Die Agrikultur auf dem Land wird total mittelalterlich oft ohne Maschinen, mit Eseln und Ochsen betrieben. Überall sieht man Frauen in Handarbeit auf dem Feld sitzen, auch die Kinder müssen da arbeiten. Das ist keine autarke Landwirtschaft – es wird für den ägyptischen Kapitalismus produziert – und es werden wohl auch viele Pestizide eingesetzt. Diese Kinder tragen verschlissene Kleidung, sie kommen kaum je aus dem Ort raus, sehen total ungesund aus und haben keine Perspektive auf bessere Bildung oder je aus diesen Verhältnissen herauszukommen. Noch deutlicher ist die persönliche Abhängigkeit bei den Beduinen z. B. auf dem Sinai, wo es immer so etwas wie einen Stammesältesten gibt, den man auch fragen muss, wenn man z. B. ein Hotel baut. Das Proletariat hat so gut wie keine Rechte, Streiks führen ins Gefängnis, Unfälle mit der Folge der Arbeitsunfähigkeit passieren en masse, die Entlohnung ist miserabel: Bürgerliche Lebensverhältnisse, eine „Zukunft“, soziale Absicherung existieren nicht. Mir scheint nicht, dass da die Strukturen vorhanden sind, sich als ein abgegrenztes Ich gegenüber anderen zu behaupten oder dass man die Zeit und auch die innere Notwendigkeit hat, sein Selbst gegen andere zu inszenieren und Spiele der Anerkennung zu spielen.

Also soweit einige Überlegungen, die gegen die Übertragung der Subjekt- und Ideologiekritik aus westlichen Staaten auf die Peripherie spricht.