Wilhelm Reich

Wilhelm Reich hat ein eigentümliches Schicksal. Er ist eigentlich unbekannt geworden. Über seine Theorie gibt es Kenntnis fast nur noch aus zweiter Hand, seine Texte werden nicht mehr gelesen, sie sind in Buchform nur ganz schwer zugänglich, es gibt keine Werkausgabe. Wissen über ihn beschränkt sich meistens darauf, dass er „verrückt geworden ist“ und eine esoterische Theorie einer Körperenergie namens Orgon vertreten hat, die mit dem Orgasmus zusammenhängen soll. Genau diesen Reich ergibt auch eine Internet-Recherche.

Seine theoretischen Arbeiten der 20er und 30er sind aber hochspannend: Er war eine der zentralen Figuren, die damit anfingen, Marxismus und Psychoanalyse theoretisch zu verbinden und eine synthetische Theorie zu erarbeiten, die sowohl die ökonomische Ausbeutung als auch das psychische und sexuelle Elend der Menschen in einem Ansatz darstellte („Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse“ 1929). Seine Beschreibungen von familiären Situationen, Ideologien und Charaktertypen sind präzise und nah am Gegenstand. 1933 war er der erste, der eine psychoanalytische Erklärung des Faschismus durch den autoritären Charakter publiziert hatte und damit der ökonomistisch reduktiven Faschismustheorie der KPD opponierte („Massenpsychologie des Faschismus“ 1933). Er veröffentlichte einer Kritik des sexistischen backlash in der stalinistischen Sowjetunion, in der unter anderem die Homosexualität wieder unter Strafe gestellt worden war. Er baute zusammen mit anderen eine politisch-praktische Tätigkeit einer Sexualberatung für Proletarier*innen auf mit Praxen in verschiedenen Stadtteilen – die Sexpol-Bewegung, eine praktische Sexualpolitik, die er zugleich im Zusammenhang mit kommunistischer revolutionärer Praxis und kultureller Revolution begriff („Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie“ 30er Jahre, „Die Sexualität im Kulturkampf“ 1936). Das bedeutete für seine  Theorie, dass er wie die Psychoanalyse Subjekt und Psychologie in einer kulturellen Eigenlogik beschreiben konnte und sie zugleich ins Verhältnis zu politischen und ökonomischen Verhältnissen setzen konnte.

Allerdings wurde er sowohl aus der KPD als auch aus der IPV (der Psychoanalytiker-Vereinigung) hinausgeworfen, und grob könnte man sagen, weil die KPD die Psychoanalyse für bürgerlich und konterevolutionär und weil die IPV den Marxismus für revolutionär und gefährlich ansah.

Ich sehe drei Gründe, warum Reich heute in Vergessenheit geraten ist:

1. Er ist wegen seiner esoterischen Orgontheorie in Verruf geraten und es erscheint unplausibel, dass es bei einer solchen Entwicklung Reichs ab den späten 30er Jahren eine ernstzunehmende frühere Theorie gegeben haben könnte. Warum sollte man sich mit jemand beschäftigen, der an Ufos glaubt und in merkwürdigen Apparaten Orgonenergie akkumuliert?

2. 1968 war Wilhelm Reich wegen seiner Faschismustheorie und seiner Sexualpolitik hoch im Kurs, und in den Jahren nach 1968 wurden seine Texte in Massen neu herausgebracht – aber nicht mehr in Raubdrucken, sondern offiziell in Verlagen. Diese Neuausgaben waren aber durchweg grundlegend überarbeitet: Sie waren erweitert um Kapitel zur Orgontheorie, die zentralen Begriffe waren revidiert (bspw. „natürliche Arbeitsdemokratie“ statt „Sozialismus“), und der Textkorpus selbst war völlig verändert. Die politisch-marxistische Stoßrichtung war den Texten weitgehend genommen und ihnen war der esoterische Begriffsapparat des Spätwerks übergestülpt worden. Das gilt für alle wichtigen Texte: „Massenpsychologie des Faschismus“, „Charakteranalyse“, „Sexualität im Kulturkampf“. An die Originalausgaben kommt man nun erst seit kurzem wieder über Scans im Internet heran, zuvor hatte man nur die Ausgaben ab den 60ern lesen können, deren grundlegende Veränderung in ihnen selbst aber nicht angemerkt worden war.

3. Das Institut für Sozialforschung (hier namentlich Fromm, Horkheimer und Adorno) hat durch seine Prominenz und den höheren wissenschaftlichen Gehalt die Grundlagenarbeit von Reich überdeckt. Während Reich in den 20ern die Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse mit in Gang gebracht hatte und die Theorie des autoritären Charakters zur Erklärung des Faschismus entwickelt hatte, was dann beides vom Institut für Sozialforschung weiterentwickelt worden war und wofür letztlich das Institut für Sozialforschung bekannt geworden war, waren Reichs Leistungen hier schließlich von der Bekanntheit des IfS verdeckt worden. Ich würde sagen: zu Unrecht, da Reichs Texte im Gegensatz zum IfS aus der konkreten politischen und therapeutischen Praxis heraus arbeiten und auch für die Praxis und innerhalb der Kämpfe bestimmt sind, während die Texte des IfS durchweg praxisfern und innerhalb der akademischen Distanz zur Praxis geschrieben sind.

Eine sehr gute und kurze Charakterisierung Reichs ist hier zu finden.