Zur Erklärung der Identitätspolitik

Es gibt heute im politischen Lager von liberal bis radikal links eine eigentümliche Verkehrung der Linien der politischen Kritik-Gebote und -Verbote. Auf der einen Seite stehen die Lohnarbeitenden, also die spezifisch ökonomisch Subalternen. Während die Kritik der Lohnarbeitenden geboten ist, ist die Kritik der Kapitaleigentümer verboten. Auf der anderen Seite stehen die rassistisch, sexistisch oder anderweitig kulturell Subalternen. Während die Kritik der Subalternen verboten ist, ist die Kritik der kulturellen Unterdrückung (Weiße, Männer usw.) geboten.

Auf der einen Seite erscheint es hinsichtlich der Lohnarbeitenden als verwerflich und suspekt, in der Kritik ihrer Subalternität nicht auf ihre „Probleme“ einzugehen: Ihre Integration in den Kapitalismus, ihren Sexismus und Rassismus, ihre angeblich besondere Anfälligkeit für rechtsextremes Gedankengut. Es ist ein regelrechtes Kritik-Gebot, die Lohnarbeitenden hierin kritisch zu untersuchen. Es erscheint aber umgekehrt als verwerflich und suspekt, Unternehmer, Vorstandsvorsitzende von Konzernen und Kapitaleigentümer zu kritisieren, wenn es sich nicht um offensichtliche villains wie Rüstungs- oder Pestizidproduzenten handelt. In unserem heutigen liberalen bis radikal linken Lager wird solche Kritik umgehend als populistisch infragegestellt; die Unternehmer werden stattdessen als rationale und verantwortungsbewusste Personen anerkannt.

Auf der anderen Seite erscheint es hinsichtlich der kulturell Subalternen als verwerflich und suspekt, wenn deren Identität – etwa Weiblichkeit oder Schwarze Identität – kritisiert wird. Es gibt z. B. einen verbreiteten und sehr wütenden Reflex auf die Problematisierung sexuell aufreizender Kleidung von Frauen, und die entsprechenden Diskurse sind sehr griffig ausgeprägt und kaum hinterfragbar: Dieser Reflex missversteht strukturell die Problematisierung als Verbot von sexuell aufreizender Kleidung und verwechselt sie mit der Legitimierung von sexuellen Übergriffen durch sexuell aufreizende Kleidung. Der Reflex antwortet auf die Problematisierung, dass Frauen das Recht haben, sich zu kleiden, wie sie wollen; wer das infragestelle, sei sexistisch. Dabei wurde aber in einem früheren Feminismus sexuell aufreizende Kleidung durchaus kritisiert, und muskelbepackte herablassende Männlichkeit wird ebenso wie sexuell aufreizende Kleidung auf Werbeplakaten zurecht scharf kritisiert. Man müsste doch genau wie bei den Lohnarbeitenden hier auch fragen, inwieweit Frauen in die sexistische Matrix integriert sind und sie durch ihre Sexualität und Weiblichkeit reproduzieren. Aber es gibt hier ein eigentümliches Kritik-Verbot.  

Die Kritik der Lage der Lohnarbeitenden ist aber genau dann völlig in Ordnung oder sogar gewünscht, wenn sie nicht die ökonomische Subalternität, sondern gerade die kulturelle Subalternität kritisiert, d. h. den Klassismus. Es ist gerade nicht verwerflich, das überhebliche Verhalten der Bildungsbürgerin zur sogenannten „Unterschicht“, also klassistische Abwertung zu kritisieren.

Woran liegt diese eigentümliche Verkehrung der Kritik-Gebote und -Verbote?

Ich denke, grob gesagt liegt die Verkehrung an dem absorbierten Postmodernismus und seinem identitätspolitischen Denken. Die konkrete Erklärung der Verkehrung ist dagegen etwas kompliziert und besteht aus vier konsekutiven Operationen:

1. Zunächst die Hypostasierung der Kultur als alleiniger gesellschaftlicher Sphäre und entsprechend die Entwertung der Ökonomie. Aus Sicht des absorbierten Postmodernismus hat – letzten Endes – die Ökonomie keine Relevanz als eigenständiger und systematischer gesellschaftlicher Teilbereich, nur die Kultur. Die Ökonomie und der Klassenantagonismus ist kein systematisches Unterdrückungsverhältnis, sondern alle Unterdrückung ist kulturell. Dies ist also eine Umkehrung zum traditionellen Marxismus, in dem die Ökonomie als „Basis“ hypostasiert und die Kultur als „Überbau“ entwertet wurde.

 2. Zweitens die Verdinglichung der Bereiche der kapitalistisch formierten Kultur, und dies in einer ausschließlichen Weise nach dem Gesichtspunkt einer Hierarchie von Personen. Das Ergebnis sind die verdinglichten Unterdrückungsverhältnisse Sexismus, Klassismus, Rassismus usw. Die kapitalistisch formierte Kultur nicht aus solchen verdinglichten Unterdrückungsverhältnissen, sondern aus einem komplexen Zusammenhang von Verhältnissen: Zum Beispiel Sexualität, Familie, politische Gemeinschaft, Bildungsbürgertum, Öffentlichkeit, Subkultur uvm. Jedes dieser Verhältnisse kann letztlich nur im systematischen Zusammenhang der anderen begriffen werden. Der Gesichtspunkt der Hierarchie von Personen (z. B. sexuelle Über- und Unterordnung) gehört in jedes dieser Verhältnisse, er ist aber nur ein Gesichtspunkt unter anderen, wie Praktiken, Wahrnehmungsweisen, Identitäten. Die Identitätspolitik verdinglicht also diese einzelnen Bereiche, d. h. sie isoliert sie aus dem Zusammenhang der Kultur einzig nach dem Gesichtspunkt der Hierarchie von Personen, und fixiert diese verschiedenen Hierarchien von Personen als isolierte Bereiche.

3. Es erfolgt die Personifikation dieser isolierten Hierarchien von Personen. Damit erscheint die Unterdrückung nun nicht mehr als Verhältnis, in dem die verschiedenen Personen eine bestimmte Position einnehmen, sondern das Verhältnis und die Unterdrückung scheint nun von den übergeordneten Personen auszugehen (die Männer, die Weißen, die Bildungsbürger, die Deutschen usw.).

4. Am Schluss steht eine Moralisierung der Personen. Die Unterdrückung wurde ja kritisch als Problem betrachtet, und folgerichtig werden die Unterdrücker in ihrer Person als schuldig an der Unterdrückung betrachtet und die moralischen Werte gut/böse werden an die Personen verteilt: Das Problem ist der Mann als Mann, die Frau ist das Opfer. Es entsteht ein „wir“ gegen „die“, in dem höchstens sogenannte „solidarische Männer“ gegen ihre Natur für das Gute handeln können, aber im Grunde nichts gegen sich selbst, die sie das Problem sind, tun können.

Dieses Resultat der vierschrittigen Konstitution der Identitätspolitik ist äußerst fatal, weil die Identitätspolitik hier vollständig im Netz der Personifikation und Moralisierung feststeckt: Es ist hier nur mehr möglich, die Personen als Personen zu denunzieren, aber nicht mehr die zugrundeliegenden Verhältnisse zu sehen und eventuell praktisch aufzuheben. Im Gegenteil entspricht die Personifikation den Mechanismen der kapitalistisch formierten Kultur selbst, d. h. die Identitätspolitik bewegt sich trotz ihrer kritischen Attitüde in ganz systemkonformen Bahnen. In letzter Instanz trägt sie darum sogar dazu bei, die Unterdrückungsverhältnisse der kapitalistisch formierten Kultur zu stabilisieren.