Hegels „Wer denkt abstrakt?“ und das geistige Tierreich

Hegels „Wer denkt abstrakt?“[1] ist eine ironische Quasi-Abhandlung über die „gute Gesellschaft“ entlang des Bescheidwissens über das abstrakte Denken und die Selbsterhöhung durch dieses Bescheidwissen. Der kleine Aufsatz bildet einen Schlüssel mit anschaulichen Illustrationen für das geistige Tierreich, d.h. für das Kapitel zum geistigen Tierreich aus der Phänomenologie des Geistes.

Hegel hat den Text vermutlich zwischen April 1807 und 1.7.1807 bereits in Bamburg geschrieben. Äußerer Anlass war ein Preisausschreiben des Morgenblatts für gebildete Stände, für eine Satire.[2] Laut Walter Jaeschke war Hegels Text vermutlich nicht als Einsendung für das Preisausschreiben gedacht, „denn der Preis war auf eine ‚Satire in gereimten Versen über den Egoismus‘ ausgesetzt.“[3] Allerdings handelt es sich genau um eine solche Satire, die zugleich eine ironisch-spitze Vorführung des „Morgenblattes“ und seiner Leser als „gebildete Stände“ ist, und insbesondere deren klassistische Distinktion als ‚Gebildete‘ aufs Korn nimmt. Hegel distanziert sich im Text zwar davon, dass dieser „Satire oder Ironie“ sei (S577) – aber offensichtlich nur zum Schein. Als satirisch-ironische Bemerkung ist die Distanzierung in einer Satire bzw. Ironie tatsächlich ziemlich lustig. Man kann also schon davon ausgehen, dass Hegel den Text für genau dieses Preisausschreiben geschrieben hat.

Der Text ist in seiner Form zwar eine philosophische Abhandlung der Frage „Wer denkt abstrakt?“, hat aber zunächst, dem Scheine nach, einen anderen Inhalt. Tatsächlich handelt es sich um eine Quasi-Komödie, die am Ende aber nicht in einer komischen Versöhnung, sondern in einem ‚tragikomischen‘ Zusammenbruch endet – und damit wiederum einen philosophischen Punkt aufzeigt: Der Offizier prügelt seinen Soldaten, weil er ihm als Abstraktum des prügelbaren Subjekts gelten (siehe dazu unten). Der Text hat nur die äußere Form einer solchen Abhandlung: Hegel gibt die ‚Argumente‘ als Dialoge wieder, die er zu Anfang auch selbst als „Schein[…] einer leichten Konversation“ (S575) bezeichnet. Der Text gibt eine leichte Konversation wieder – aber tatsächlich nur zum Schein, denn an der Darstellung dieser leichten Konversation arbeitet er in Wirklichkeit etwas anderes heraus: die Struktur und Mechanismen der „guten Gesellschaft“. Der Text ist die ironische Darstellung der „guten Gesellschaft“ und wie in dieser die Sache selbst und das abstrakte Denken verhandelt wird. Er ist gewissermaßen inszenierte Dialektik, d.h. eine dialektische Darstellung in Form eines Schauspiels – möglicherweise orientiert an Diderots Jacques et son maître, auf den Hegel im Text verweist und der ebenfalls eine philosophische Darstellung in ironischer Komödienform ist.

(Insofern ist er der Text auch ‚leicht zugängliche‘ Kritik des abstrakten Denkens zugunsten eines ‚konkreten‘, ‚gebildeten‘ Denkens,[4] sondern dieses wird darin als auf nur umgekehrte Weise abstrakt vorgeführt. Die tatsächliche Konkretion, die Hegel hier sucht, ist die Darstellung dieser Prätentionen und der Mechanismen, in denen diese miteinander konkurrieren.)

Dass Hegel sich auf seine Analyse des geistigen Tierreichs stützt, geht hieraus hervor: „daß es sich zeigte, daß die Gesellschaft längst im Besitze der Sache selbst war“ (S576). Das sind genau die Worte aus dem Kapitel der Phänomenologie. Abgesehen davon entwickelt Hegel hier inhaltlich genau die Widersprüche, die er auch im Kapitel zum geistigen Tierreich entwickelt.

Die Ausdrücke für das geistige Tierreich im Aufsatz sind gebräuchlicher und besser verständlicher: Hegel spricht von der „schönen Welt“, der „guten Gesellschaft“, einer „feinen, empfindsamen Leipziger Welt“, „vornehmen Leuten“, dem „gebildeten“ Menschen, immer im Gegensatz zum „gemeinen Volke“, dem Mann „von wenigem Stande und wenigem Einkommen“, „schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse“.

Diese Abwertung gebildet/ungebildet kommt meines Ermessens im geistigen Tierreich nicht vor, sondern dieses klassistische Herrschaftsverhältnis kommt wohl erst im Bildungskapitel (geistreiches Schwatzen) und evtl. am Ende der Kunstreligion (gebildete Elite?) vor. Das geistige Tierreich ist eher die Prätention, dass ‚alle‘ Teil ‚der‘ Gesellschaft sind, d.h. dass es nur ‚die‘ Gesellschaft gibt, die zugleich die gute Gesellschaft ist. Die anderen – die Bedienten, das gemeine Volk – sind ‚natürlich‘ nicht Teil der Gesellschaft, aber davon wird abstrahiert. Daher gibt es im geistigen Tierreich die Fiktion, dass wir uns ‚in der Gesellschaft‘ alle auf Augenhöhe bewegen und wir eine Gemeinschaft bilden, und es nur um die Auseinandersetzung unserer heißen Sache geht. (Das ist im Grunde die Struktur jeder Szene, sei es einer ‚gebildeten‘ und ‚vornehmen‘ als auch der ‚Fußballwelt‘, der ‚Hip-Hop-Szene‘ oder der Philosophie-Szene.)

Hegel scheint ziemlich genau der Widerspruchsentwicklung im geistigen Tierreich zu entsprechen: Das gemeine Volk meint Bescheid zu wissen, dass der Mörder ein Mörder ist und sonst nichts. Davon ausgehend (S578f) gibt es eine Reihe von anderen Gesichtspunkten, die jeweils von sich glauben, gerade nicht so einseitig und abstrakt zu sein. Daraus entspinnt sich ein gegenseitiges Beschuldigen und Heruntermachen. (Dieses Hin und Her spare ich hier aus, es kann am Text nachvollzogen werden, S578f. Die Bewegung der Gesichtspunkte scheint auf den ersten Blick ziemlich genau derjenigen im geistigen Tierreich zu entsprechen.)

Obwohl Hegel so tut, als ob er die ‚gebildeten Stände‘ von den ‚ungebildeten‘ abheben würde – einzig die gebildeten seien in der Lage, konkret zu denken, die ungebildeten denken nur abstrakt –, führt er die gebildeten Stände tatsächlich vor: Denn er beginnt gerade mit der Flucht der ‚gebildeten Stände‘ vor dem abstrakten Denken, und dass die schöne Welt ja alles selbst versteht und Denken daher überflüssig ist. Er dreht das um und schmeichelt der schönen Welt, dass sie ja gerade nicht abstrakt denkt, also nicht einseitig, sondern ‚konkret‘. Dieses ‚konkrete‘ Denken stellt sich allerdings jedesmal nur als neue Abstraktion heraus, die sich gerade verbirgt, abstrakt zu denken. Das artet am Schluss zu völlig absurden Prätentionen: „Am besten befindet sich der Bediente bei den Franzosen. […] [W]enn der [französische] Herr etwas will, so geht es nicht mit Befehl, sondern er muß dem Bedienten zuerst seine Meinung einräsonieren […].“ (S580) Hegel endet er damit, dass die schöne Welt ihre Untergebenen wie Abstraktionen behandelt, die zu prügeln sind: „So gilt der gemeine Soldat dem Offizier für dies Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr, der Uniform und Porte d’épée[5] hat, sich abgeben muß, und das ist, um sich dem Teufel zu ergeben.“ (S581)


[1] Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807. Theorie-Werk-Ausgabe, Band 2, Suhrkamp, S. 575-581.

[2] Vgl. loc. cit., S. 592; ebenso auch Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 184.

[3] Ibid.

[4] So etwa Olivia Mitscherlich-Schönherr: https://praefaktisch.de/hegel/wer-denkt-abstrakt-wie-philosophie-in-der-corona-krise-unter-anleitung-von-hegel-praktisch-werden-kann/ [Zugriff: 26.06.2025]

[5] Ursprünglich entsprechend dem Wortsinn „Schwerttrage“, später im übertragenen Sinn das Standesabzeichen für Offiziere.